KurzgeschichtenPersönliches und Spielereien

Der getürmte Kirchturm

Bemerkt wurde es von einer englischen Touristin. Sie stand vor dem Untermenzinger Pfarrheim und schaute lange in ihren Reiseführer. Dann blickte sie sich um, schaute angestrengt auf das Pfarrheim, auf die Kirche, runzelte die Stirn und suchte wieder in ihrem Reiseführer: „But, where is the tower?“, fragte sie schließlich, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sie am richtigen Platz und vor allem auf der richtigen Seite ihres Buches war. „Where for heaven is the tower of St. Martin?“ Sie fragte einen Passanten: „Excuse me, where is the tower of St. Martin?“

Der Passant blickte sich um. „Hm“, meinte er, suchend schweiften seine Augen umher. „Hm“, sagte er nochmals, dann ließ er die Touristin stehen und eilte, so schnell es ging, zur Polizei. „Schnell, bitte helfen sie mir!“ Der Polizist rückte sein hinter gräulichem Haar verborgenes Hörgerät zurecht. „Der Turm von St. Martin ist weg!“ rief der Passant aufgeregt. „Wie lautet der Nachname?“, fragte der Polizist sachlich und machte eine Notiz auf einem Block. „Verstehen sie nicht, der Kirchturm!“ ‚Martin Kirchturm’ notierte der Beamte. Dann zuckte er zusammen. „Der Kirchturm von St. Martin?“, rief er. Der Passant nickte: „Genau der!“ Schreckensbleich sprang der Beamte von seinem Stuhl, machte einen Satz über seinen Schreibtisch und lief auf die Straße. Einen Augenblick später stürzte er in sein Amtszimmer, riss den Hörer von der Gabel: „Alarm!“, brüllte er, „Man hat den Turm von St. Martin geklaut!“. „Wie lautet der Nachname?“, fragte der Beamte am anderen Ende sachlich.

Wenige Minuten später war der Platz, wo vorher noch der Kirchturm stand, von einer riesigen Menschenmenge umringt. „Ich habs mir doch gleich gedacht, als ich morgens hier vorbei kam“, sagte einer der Umstehenden, „Martin, hab ich mir gesagt, da stimmt was nicht!“ „Der saure Regen ist schuld!“, mutmaßte ein Professor für Mathematik. „Nein, die Russen!“, rief jemand. „Früher, zu meiner Zeit, da wäre so etwas nicht passiert, das können sie mir glauben!“, antwortete eine ältere Dame. „Aber heutzutage…“

Da hielt ein dunkelblaues Auto und der Pfarrgemeinderatsvorsitzende entstieg ihm eilig. „Verehrte Anwesende!“, rief er laut „Ich bitte um Ruhe!“ Sofort wurde es still, denn er war ein beliebter Mann und jeder wollte ihn reden hören. „Verehrte Anwesende!“, rief er erneut, „die Lage ist ernst! Global gesehen…“

Er wurde unterbrochen. „Ich habe den Turm gefunden!“ rief ein heranstürmender Junge. „Er ist in unserem Garten!“ Augenblicklich folgten ihm alle, allen voran der Vorsitzende, der ganz vergaß, dass er auch mit dem Auto hätte fahren können. Tatsächlich, in diesem Garten stand der Turm und blickte auf die Menschenmasse herab, wie er es auch auf seinem alten Platz gemacht hatte und wahrscheinlich überall tun würde. Ihm merkte man den Ortswechsel jedenfalls nicht an. Die Anwesenden begannen zu murmeln. Der Vorsitzende erhob wieder seine Stimme. „Verehrte Anwesende!“ Ein Verwaltungsmitglied unterbrach ihn: „Das verstößt ja gegen die Bauvorschriften! Der Turm kann unmöglich hier stehen bleiben, das wäre ja…“ Der Vorsitzende unterbrach ihn wiederum. „Ruhe! Er soll ja gar nicht dort stehen bleiben. Aber wie bringen wir ihn wieder zurück? Wir können doch nicht 700 Jahre St. Martin Untermenzing feiern, wenn die Hälfte davon in einem kleinen Garten steht?“ Wieder begannen die Umstehenden zu tuscheln. Jeder hatte einen anderen Vorschlag, und jeder war hundertprozentig davon überzeugt, dass nur seiner richtig war. Man könne ihn abreißen und wieder aufbauen, ein anderer meinte, man solle doch auch die Kirche herbringen, der nächste wolle erst seine Frau fragen, aber die wisse es sicher.

Bis zum Abend jedenfalls unternahm man nichts. Der Vorsitzende ließ noch den Platz um den Turm absperren, damit ihn niemand beschädigen konnte, dann ging bzw. fuhr er nach Hause.

Nach und nach folgten ihm alle Anwesenden, da es ja nichts weiter zu sehen gab und gegen Mitternacht waren selbst die lustigsten Schaulustigen verschwunden. Dann blinkten zwei Taschenlampen auf und ebenso viele Gauner schlichen zum Turm. „Du Idiot, ich sagte gleich, es war keine gute Idee, den Turm zu klauen!“, flüsterte der eine. „Außerdem war es die völlig falsche Richtung, und es ist wirklich kein Kinderspiel gewesen!“ „Tut mir leid“, sagte der andere Gauner, „ich hab mir das auch anders vorgestellt“, lud sich den Turm wieder auf und schleppte ihn keuchend und schwitzend zurück auf die Straße. Auf dem Parkplatz angekommen ertönte eine laute Stimme: „Halt! Stehenbleiben! Polizei!“

„Polente!“, flüsterte der eine Gauner. Eilig begannen sie loszurennen. Vor Schreck warf der andere Gauner den Turm weg, unglücklicherweise direkt vor den Polizisten, so dass dieser sich den Kopf stieß und bewusstlos umfiel. Als er zu sich kam, war es bereits taghell und er wusste leider von nichts mehr. Die Gauner waren längst verschwunden. So konnte nun niemand mehr erfahren, wie denn der Kirchturm wieder an seinen alten Platz gekommen war, denn die Gauner verrieten natürlich auch nichts.

Hannes Bräutigam

(nach einer Idee von Kai Reichert)

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